An diesem grauen Januarmorgen war Margot Friedländer schon früh mit ihrem Rollator draußen in der Kälte unterwegs gewesen. Zurück in ihrer warmen Wohnung zeigt sie der Besucherin die Familienbilder auf dem Couchtisch neben ihrem Sessel. Als erstes das Bild eines jungen Mannes mit dicken schwarzen Haaren, der ernst und durchdringend durch eine dunkel gerandete Hornbrille schaut. Er sieht sehr klug aus, gar nicht kindlich. Es ist ihr Bruder Ralph, damals ist er 14 Jahre. „Er war brillant“, sagt Friedländer, „hat mehrere Klassen übersprungen und wusste schon die Antwort auf die Fragen der Lehrer, bevor sie gestellt wurden. Vor allem in Mathematik.“ Und er habe sehr gut Geige gespielt. Am 20. Januar 1943 wurde der Bruder von der Gestapo abgeholt. Es war der Tag, an dem die Mutter mit den beiden Kindern fliehen wollte. Wer sie verraten hat, ist bis heute unklar.
Von einer Nachbarin, bei der die verzweifelte Friedländer damals klingelte, erfuhr sie, dass die Mutter kurz nach der Festnahme des Bruders die versiegelte Wohnung vorfand und ihr ausrichten ließ: „Ich habe mich entschlossen, zur Polizei zu gehen. Ich gehe mit Ralph, wohin auch immer das sein mag. Versuche, dein Leben zu machen.“ Das seien „kalte Worte aus dem Mund fremder Leute“ gewesen, beschreibt Friedländer im Rückblick ihre Verlassenheit. „Versuche, dein Leben zu machen“, wiederholte die Nachbarin und überreichte ihr die Handtasche der Mutter mit deren Adressbuch und der Bernsteinkette. Beides hat sie noch heute. Damals wusste sie noch nicht, dass es das einzige war, was ihr von ihrer Mutter bleiben sollte. Denn die Mutter wurde sofort in Auschwitz vergast, der Bruder lebte noch etwa vier Wochen. Auch der Vater und viele andere Verwandte wurden in Auschwitz ermordet.
Sie selbst riss sich in ihrer Verzweiflung den Judenstern vom Mantel und tat alles, um weniger erkennbar zu sein: Sie färbte sich die Haare tizianrot, ließ sich die Nase verkleinern und tauchte unter. Fünfzehn Monate lang lebte sie in Verstecken bei 16 Berlinern, die damit Kopf und Kragen riskierten und die knappen Lebensmittel mit ihr teilten, bis jüdische Greifer sie stellten, die mit der Gestapo zusammenarbeiteten. Sie wurde nach Theresienstadt deportiert und überlebte als einziges Familienmitglied das Lager.
„Wie ich nach Theresienstadt kam und einen Monat da war, habe ich gedacht, vielleicht ist der Osten auch so etwas, und ich werde meine Mutter und meinen Bruder wiedersehen“, erzählt sie rückblickend in ihrem Apartment in einem Berliner Wohnstift. „Erst als die Züge aus Auschwitz kamen und ich die Menschen gesehen habe, die halb tot oder tot aus den Viehwagen fielen, wussten wir, was der Osten ist.“
Damit waren ihre Hoffnungen begraben. „Da wusste ich, dass ich weder meine Mutter noch meinen Bruder jemals wiedersehen würde“, sagt sie. Mit ihrem Mann Adolph Friedländer, den sie aus dem jüdischen Kulturbund in Berlin kannte und dem sie in Theresienstadt wiederbegegnete, ging sie 1946 in die Vereinigten Staaten. Es sei keine Verliebtheit gewesen, die in diesem Zwischenreich zwischen Tod und Leben wachsen konnte, aber eine sehr gute und tiefe Freundschaft und Ehe, die von einem der letzten in Theresienstadt verbliebenen Rabbiner nach jüdischem Ritus geschlossen wurde.