(Berlin) Nach der deutlichen Niederlage bei der Europawahl erscheint die ohnehin zerstrittene deutsche Koalition um Olaf Scholz fragiler denn je und die Forderungen nach einem Kurswechsel oder gar vorgezogenen Parlamentswahlen werden lauter.
Die von rechtsextremen und konservativen Spitzenpolitikern geforderte Idee einer vorzeitigen Abstimmung sei „zu keinem Zeitpunkt und keine Sekunde“ in Betracht gezogen worden, reagierte Kanzlersprecher Steffen Hebestreit am Montag umgehend und wies auf die Differenz zwischen den Franzosen hin und deutsche politische Systeme.
Die Sozialdemokraten (SPD) haben eine historische Niederlage erlitten, die eine erneute Kandidatur von Olaf Scholz bei der für Herbst 2025 angesetzten Landtagswahl ernsthaft in Frage stellen könnte.
Mit 13,9 % der Stimmen erlitten die Sozialdemokraten nach vorläufigen Ergebnissen ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl seit 1949, schlechter als ihr Ergebnis bei der Europawahl 2019 (15,8 %), im freien Fall im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2021 (25,7 %).
Sie liegen hinter den Konservativen (30 %) und der rechtsextremen AfD (15,9 %), deren Wähler sich von der radikalen Rhetorik der Partei und einer jüngsten Reihe von Skandalen nicht abschrecken lassen.
Für die Regierungspartner von Herrn Scholz, die Grünen (11,9 %) und die Liberalen (5,2 %), ist der Weckruf ebenso brutal.
Diese „Koalition der Verlierer“, wie die Mitte-Links-Tageszeitung Süddeutsche Zeitung es nennt, erzielt in Ostdeutschland, wo im September Regionalwahlen in drei Bundesländern stattfinden, noch desaströsere Ergebnisse. In diesen Regionen liegt die extreme Rechte bei der Umfrage am Sonntag deutlich vorn.
„Scholz hat viel in diese Kampagne investiert und es war erfolglos. „Im Gegenteil: Seine starke Präsenz hat den Abwärtstrend seiner Partei möglicherweise sogar noch verstärkt“, meint die Wochenzeitung „Der Spiegel“. „Nach dieser persönlichen Niederlage muss er sagen, wie er weiterführen will […] Sonst droht dem Land eine Lähmung“, warnt er.
Anders als Präsident Emmanuel Macron reagierte Olaf Scholz am Sonntag nicht auf die Ergebnisse.
„Für Olaf Scholz sind die Worte „Folgen“ und „Größe“ chinesisch, wenn es um seine Rolle als Kanzler geht“, kritisiert die konservative Tageszeitung Die Welt.
„Emmanuel Macron hat gezeigt, was es bedeutet, Schlussfolgerungen zu ziehen […] Olaf Scholz sollte folgen. „Ein Kanzler kann nicht aus einer Partei mit einem Ergebnis von 14 % kommen“, fügt er hinzu.
Der bayerische Konservative Markus Söder forderte am Montag „so schnell wie möglich“ Wahlen und „einen Neuanfang für unser Land“.
Herr Scholz müsse „den Weg zu Neuwahlen ebnen – statt noch ein Jahr gegen die große Mehrheit der Bevölkerung zu regieren“, sagte AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel auf ihrem X-Account.
Bisher ist die älteste Partei Deutschlands hinter ihrem Spitzenreiter aufgeschlossen. Doch das Ergebnis vom Sonntag entfachte die Debatte neu: „Mit 14 Prozent hat niemand den unbestrittenen Anspruch, die SPD anzuführen“, sagte der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel.
Zu den möglichen Nachfolgern gehört der beliebte Verteidigungsminister Boris Pistorius. Die Frage, ob Letzterer nicht der beste Kandidat für 2025 sei, „wird mit aller Macht zurückkommen“, schätzt die Süddeutsche Zeitung.
Für die Ökologen zeigt das Ergebnis, dass das Klima nicht mehr mobilisiert: Sie erreichten mit 20,5 % im Jahr 2019 fast 9 Punkte mehr.
„Vor fünf Jahren war der Kampf gegen den Klimawandel ein Thema, mit dem man punkten konnte, jetzt ist es eine Belastung“, stellt der Spiegel fest.
Mit den Verhandlungen über den Haushalt 2025, die Anfang Juli vorgelegt werden müssen, wird die Koalition von Olaf Scholz sehr bald mit den ersten Nachwirkungen ihres Scheiterns konfrontiert sein.
Angesichts der Kürzungsforderungen des liberalen Finanzministers Christian Lindner verspricht der Kampf zwischen Ökologen und Sozialdemokraten einen erbitterten Kampf. Unter den Blicken der Wähler, die am Sonntag ihre Müdigkeit dieser Machtspiele zum Ausdruck brachten.